DeutschSchule und Entwicklung

Wie Lernstörungen vermieden werden können

Etwa jedes dritte Kind in Deutschland leidet im Laufe der Grundschule unter besonderen Lernschwierigkeiten beim Erwerb von Lesen, Rechtschreiben und Rechnen. Mindestens jedes achte Grundschulkind erfüllt sogar die Kriterien der Weltgesundheitsorganisation für die Vergabe der Diagnose „Lernstörung“. Dies kann weitreichende Folgen haben, umso wichtiger ist es, präventive Maßnahmen zu ergreifen. Diese sollten bereits vor dem Eintritt in die Schule beginnen.

 

Welche Lernstörungen treten auf und wie häufig?

Neuere deutschsprachige Studien zeigen, dass in der Mitte der Grundschulzeit ungefähr ein Drittel der Schüler*innen von basalen Lernschwierigkeiten betroffen ist und fast ein Viertel der Kinder von Lernschwächen (nach Klassifikation der WHO). Von einer Lernstörung nach ICD-10 im Bereich des Lesens- und/oder Rechtschreibens, im Bereich der Mathematik oder in beiden Bereichen sind 13,3 % der Kinder am Ende der Zweiten Klassenstufe betroffen.
Lese-­Rechtschreibstörungen treten bei Jungen häufiger auf als bei Mädchen, bei einer isolierten Lesestörung sind die Zahlen aber in etwa gleich. Offenbar ist der höhere Anteil der Jungen also eher durch die Rechtschreibstörung als durch die Lesestörung bedingt.
Die Häufigkeit, mit der die Diagnose Rechenstörung gestellt wird, scheint auch mit dem Umfang und der Qualität des Unterrichtsangebots zusammen zu hängen, in Klassen, in denen kein gezielter Förderunterricht in Mathematik angeboten wurde, waren die Schwierigkeiten laut einer Studie deutlich häufiger als dort, wo mehrmals wöchentlich ein gezielter Förderunterricht stattfand.
Aktuelle Studien mit repräsentativen Stichproben im deutschsprachigen Raum zeigen, dass Mädchen zwei bis dreimal häufiger von einer Rechenstörung betroffen sind als Jungen.

Bei einer schulischen Entwicklungsstörung ist das Risiko für das Auftreten einer weiteren Störung erhöht, beispielsweise lag bei 22 % der Kinder mit einer Lesestörung auch eine Rechenstörung vor und 48 % der Kinder mit einer Rechenstörung erfüllten auch die Kriterien für eine Störung im Lesen und / oder Rechtschreiben.

Lassen sich Lernstörungen vermeiden?

Das Entstehen von Lernstörungen zu verhindern, ist angesichts der Folgen für die Betroffenen und die Gesellschaft ein Thema von hoher Priorität. Um möglichst früh intervenieren zu können, ist es wichtig, die Vorläuferfähigkeiten für Schriftsprach- und Mathematikerwerb zu identifizieren. Hierzu gibt es ermutigende Forschungsergebnisse.

In mehreren Längsschnittstudien konnten übereinstimmend drei grundlegende kognitive Fertigkeitsbereiche für den Erfolg beim frühen Leseerwerb identifiziert werden: Buchstabenkenntnis, phonologische Bewusstheit und die Benenngeschwindigkeit für bekannte Objekte.
Auch bei arithmetischen Fähigkeiten kann ein Erfolg bei Erwerb des Rechnens vorhergesagt werden, eine Kombination aus frühen symbolischen wie nichtsymbolischen Vergleichsdefiziten erhöht das Risiko, später eine Rechenstörung auszubilden.

Erwiesenermaßen ist es eine erfolgreiche Strategie, Kinder mit frühen Entwicklungsrückständen in den relevanten Vorläuferfertigkeiten zu identifizieren und diese dann durch intensive und gezielte Übungen zu verbessern. So wird erreicht, dass der Anfangsunterricht in der Schriftsprache und in Mathematik besser bewältigt kann. Inzwischen liegen in ihrer Wirksamkeit gut belegte Präventionsprogramme vor.

Beeinträchtigungen in der phonologischen Bewusstheit vor der Einschulung sind nicht nur ein geeigneter Frühwarnhinweis für schulische Schriftspracherwerbsprobleme, sie lassen sich auch durch entsprechende Präventionsprogramme nachhaltig beeinflussen. Übungen zur phonologischen Bewusstheit in Kombination mit Übungen zur Verknüpfung von Buchstabenlauten und ihrer visuellen Repräsentation scheinen besonders wirkungsvoll zu sein (z.B. HLL).

Ansätze einer gezielten mathematischen Frühförderung enthalten Übungen zum Verstehen des Zahlenraumes und zur Mengenbewusstheit von Zahlen und Zahlrelationen (z.B. MZZ oder MARKO), die Trainings werden über mehrere Wochen durchgeführt.

Lassen sich aufgetretene Lernstörungen überwinden?

Was kann getan werden, wenn Lernstörungen sich bereits manifestiert haben? Nach Studien scheinen ausschließlich Ansätze wirksam zu sein, die unmittelbar auf die Fertigkeiten und Prozesse ausgerichtet sind, die für das Lesen, Rechtschreiben und / oder Rechnen erforderlich sind.

Der Ansatz der sogenannten Phonics-Trainings scheint besonders wirksam zu sein bei Lese-Rechtschreibstörungen. Ziel dabei ist die systematische Förderung der Phonem­ Graphem­ und der Graphem-­Phonem-­Korrespondenz sowie der Wortteilanalyse und ­sSynthese. Durch Übungen von Phonem­-Graphem­-Zuordnungen und Aufgaben zum Zergliedern geschriebener Wörter in ihre Phoneme und zum Zusammenziehen einzelner Phoneme zu Wörtern wird eine entscheidende Grundkompetenz des Lesens und Schreibens aufgebaut. So wird die die automatische Worterkennung beim Lesen und das orthographische Schreiben unterstützt. Auch Übungen mit Wortteilen sind hilfreich, bei denen besonders häufige Buchstabengruppen der Schriftsprache verwendet werden. Hierdurch wird das Abspeichern von Wortteilen befördert. Abgespeicherte Wortteile erleichtern beim Lesen die Worterkennung und beim Schreiben die Produktion der korrekten Graphemfolge.

Die erfolgversprechendsten Interventionsprogramme beim Vorliegen von Rechenstörungen folgen dem Prinzip, Grundprozesse der Zahlverarbeitung und Arithmetik sowie arithmetisches Faktenwissen zu trainieren. In jüngerer Zeit sind Trainingsprogramme bei mathematischen Lernstörungen zunehmend in digitaler Form entwickelt worden, dies hat mehrere entscheidende Vorteile für die Förderung bei Rechenstörungen. Gegenüber analogen Formaten sind die Möglichkeiten der Veranschaulichung deutlich erweitert. Die Erleichterung der Verknüpfung von Diagnostik und der darauf adaptiv aufbauenden Förderung und der gleichzeitigen Einhaltung der für betroffene Kinder besonders wirksamen Übungsmethode der direkten Instruktion gehören ebenso zu den Vorteilen.
 

Onlineplattform LONDI

In Deutschland wird seit einigen Jahren die Onlineplattform LONDI (www.londi.de) zur Diagnostik und Förderung von Kindern mit Lernstörungen im Grundschulalter aufgebaut, mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Zu finden sind vielfältige Informationen über Hintergründe und den professionellen Umgang mit Lernstörungen. Nutzbar ist auch ein Screening, mit dem Grundschulkinder mit basalen Kompetenzdefiziten im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen identifiziert werden können. Es zeigt Möglichkeiten einer angemessenen Differenzialdiagnostik auf und unterbreitet auf der Basis differenzialdiagnostischer Ergebnisse Vorschläge für besonders geeignete Förderprogramme.

 

Quelle:
Marcus Hasselhorn: Lernstörungen: Ein unvermeidbares Schicksal? Zeitschrift für Pädagogische Psychologie (2021), 36, pp. 1-17
doi.org/10.1024/1010-0652/a000324.


 

Empfehlungen des Verlags

Das sagt der Dorsch zu:

Lernstörungen [engl. learning disorders], [KLI, PÄD], Bez. für die im Zus.hang von Lernprozessen auftretenden Schwierigkeiten und Verzögerungen, aufseiten des Lerners, sodass der «normalerweise» zu erwartende Lernfortschritt quant. und qual. verfehlt wird. Lernstörungen sind somit durchaus relative Größen, je nach Bezugsnorm: Die Feststellung einer Lernstörung kann bezogen sein auf die «eigentliche» indiv. intellektuelle Leistungsfähigkeit des in Betracht stehenden Lerners, die dieser bei Vollzug eines best. Lernprozesses erwartungswidrig unterschreitet (indiv. Bezugsnorm); sie kann bezogen sein auf das durchschnittliche Lerntempo bzw. den durchschnittlichen Lernumfang der ganzen Lerngruppe, welcher der betreffende Lerner angehört (Schulklasse, Sozialgruppen-Bezugsnorm); oder sie kann gemeint sein als nicht altersgemäß, wobei als Bezugsnorm die entwicklungspsychol. festgestellte durchschnittliche Lernfähigkeit der betreffenden Jahrgangsstufe fungiert (Populations-Bezugsnorm). ...

 

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