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Quälender Abstand: Einsamkeit betrifft immer mehr Menschen

Einsamkeit ist ein Problem, das seit Jahren wächst. In der Corona-Krise verschärft sich die Situation aber nochmals und immer mehr Menschen sind betroffen. Aus diesem Anlass haben wir mit Thomas Hax-Schoppenhorst, dem Herausgeber des „Einsamkeits-Buchs“ gesprochen.

Es gibt viele Definitionen von Einsamkeit. Welche schlagen Sie vor?
Die beste stammt von Reinhold Schwab. Der hat Einsamkeit als quälenden Abstand eines Individuums zu anderen Einzelpersonen oder Gruppen bezeichnet.

Gibt es auch eine Einsamkeit, die nicht quälend ist?
Wir unterscheiden grundsätzlich zwischen Alleinsein und Einsamsein. Es gibt Menschen, die sind gerne allein. Aber im Gegensatz zu einsamen Menschen können sie ihr Alleinsein unterbrechen, wenn ihnen danach ist und sie wieder teilhaben wollen. Dem Einsamen ist das nicht gegönnt. Einsamkeit wird also dadurch definiert, dass jemand Bezug und Kontakt zu seinen Mitmenschen haben will, das aber aufgrund verschiedener Faktoren nicht gelingt.

Welche Faktoren sind das?
Das ist individuell sehr verschieden. Sei es, dass er alleine lebt, in räumlicher Trennung von anderen. Sei es, dass er sich aus persönlichen Gründen die Kontaktpflege nicht zutraut, Gefühle von Minderwertigkeit oder Unzulänglichkeit hat. Sei es, dass er das finanziell nicht verwirklichen kann, oder sei es, dass er an einer Krankheit leidet, die es ihm nicht erlaubt, sich in das soziale Miteinander einzubringen. Derzeit in der Corona-Krise kommt außerdem hinzu, dass natürlich alle gehalten sind, sich – wo es geht – nicht mehr persönlich zu treffen.

In Zeiten von Corona gewinnt Einsamkeit eine ganz neue Facette hinzu …
… eine ganz tragische und unerwartete.

Das so genannte „social distancing" …
… ja, das ist eine Katastrophe, das Wort ist schon eine Katastrophe. Wir reden ja eigentlich von „physical distancing". Es geht ja darum, den anderen rein physisch nicht näher zu kommen als 1,5 - 2 Meter, um eine Tröpfcheninfektion auszuschließen. Jetzt ist irgendwer auf die Idee gekommen, das durch eine soziale Kategorie und nicht eine rein körperliche zu beschreiben.

Gehört denn zum sozialen Miteinander der Körper nicht auch dazu?
Definitiv gehört der Körper dazu, weil zum Beispiel die mediale Vermittlung nicht alles transportiert, was in einem unmittelbaren Gespräch ausgedrückt wird und wahrgenommen werden kann. Aber es ist zumindest ein kleiner Ersatz. Ich mag gar nicht daran denken, was wäre, wenn wir dieses Phänomen vor 25 Jahren gehabt hätten. Da hätte es die technischen Möglichkeiten überhaupt nicht gegeben.

Was machen Sie persönlich, um derzeit ihre sozialen Kontakte zu pflegen?
Also, ich bin verheiratet und meine erwachsenen Kinder leben außerhalb des Haushalts. Für uns heißt das, dass wir streng genommen keinen Kontakt mit ihnen haben sollen. Daher stellen wir Kontakt über Messenger-Dienste wie WhatsApp, Facetime oder Skype her, und wir telefonieren regelmäßig. Das ist natürlich bizarr. Ganz konkret: Ostern hat meine Tochter Geburtstag. Eigentlich war geplant, dass wir den zusammen feiern. Aber das wird jetzt wahrscheinlich nicht erlaubt sein.

Besuchseinschränkungen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen

Auch in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sind Besuche oft nur noch eingeschränkt bis gar nicht möglich.
Das verstärkt das Problem der Einsamkeit natürlich massiv. Was ist das für ein Gefühl, nicht von nahen Angehörigen besucht werden zu können? Hinzu kommt, dass wir derzeit vor allem von dem großen medizinischen Problem reden. Das ist auch vollkommen richtig und hat absolute Priorität. Immer mehr in den Fokus rückt daneben auch der immense wirtschaftlichen Schaden. Aber wir müssen auch darauf achten, was wir mit dem sich dadurch ergebenden psychosozialen und seelischen Schaden machen.

Verschärft sich das Problem der Einsamkeit also derzeit?
Unabhängig von Corona wächst das Problem der Einsamkeit in den letzten Jahren. Und betroffen sind alle, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Durch Corona wächst die Not allerdings in der Tat nochmal massiv. Bis hin zu dem Punkt, dass Menschen jetzt um ihre Existenz bangen. Sie wissen nicht, was aus ihrem Geschäft, ihrem Lokal oder ihrer Arbeitsstelle wird. Das Problem wird sich also zusätzlich verschärfen, weil Einsamkeit auch ein ökonomisches Problem ist. Wer sich nichts leisten kann, läuft auch eher Gefahr, sich sozial nur begrenzt einbringen zu können. Also haben wir es über Nacht mit einer deutlichen Problemsteigerung zu tun. Leider.

Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn viele Menschen isoliert sind?
Gerade jetzt wird immer wieder von Solidarität und Vertrauen geredet. Und die wird ja in Deutschland auch weitestgehend gelebt. Während der Flüchtlingskrise konnten wir das beobachten und jetzt wieder: Es gibt viele Initiativen, in denen sich Menschen solidarisch zeigen und beispielsweise für andere Menschen einkaufen gehen. In solchen Situationen sehen wir besonders eindrücklich, wie wichtig gesellschaftlicher Zusammenhalt ist.

Das Problem ist einfach, wenn der Vereinsamungsgrad insgesamt zunimmt, dann bricht auch der gesellschaftliche Kitt weg. Wenn wir das Problem Einsamkeit nicht in den Griff bekommen, haben wir es irgendwann mit Millionen von singulären Personen zu tun, die kaum noch eine Verbindung untereinander haben. Und das ist natürlich etwas, das die Lebensfähigkeit einer Gesellschaft gefährdet.

Auch sehr junge Menschen sind einsam

Sind ältere Menschen öfter von Einsamkeit betroffen als jüngere?
Bislang dachte man, dass das in erste Linie ein Problem der Alten ist. In den letzten zehn Jahren beobachten wir aber einen Anstieg des Einsamkeitserlebens über alle Bevölkerungsgruppen hinweg. Es gibt schon in der Altersgruppe zwischen 45 und 65 Menschen, die vermehrt über Einsamkeit klagen. Und auch bei noch jüngeren Menschen ist Einsamkeit ein Thema. Beispielsweise fühlen sich zunehmend auch Student*innen allein. Die sind in einer Leistungsspirale und aufgrund des hohen Drucks brechen dann die sozialen Kontakte weg.

Wenn man einsam ist, gibt man das ungerne zu. Warum?
Das ist das Problem. Einsam sein gilt als Makel, als selbstverschuldetes Problem. So dass einsame Personen unter keinen Umständen den Eindruck aufkommen lassen wollen, einsam zu sein. Sie tragen das Gefühl von Minderwertigkeit, von Beeinträchtigung und von nicht ausreichen können still und heimlich mit sich herum. Aber sie teilen sich nicht mit.

So wird es dann immer schwieriger aus der Einsamkeit herauszukommen?
Genau. Das birgt die Gefahr der Manifestation in sich. Angefangen bei leichten Gefühlen der Minderwertigkeit und des Niedergeschlagenseins. Bis hin zu dem Punkt, dass Menschen dann an einer depressiven Verstimmung leiden oder einer Depression erkranken.

Aber ist Einsamkeit nun ein persönlicher Makel?
Nein, wir leben in einer Zeit, in der mehr oder minder gilt, dass jede*r seines bzw. ihres Glückes Schmied ist. Wer zu langsam ist oder sich nicht mit Ellbogen durchboxt, hat eben Pech gehabt. Zunehmend versterben ja sogar Menschen, ohne dass es jemand mitbekommt. Es ist also auf der einen Seite ein persönliches Problem, dass man sich nicht in der Lage sieht, dass Problem in Angriff zu nehmen. Auf der anderen Seite ist es ein Phänomen einer zunehmenden Verrohung und Unaufmerksamkeit – bis hin zu einer grassierenden Gleichgültigkeit in unserer Gesellschaft. Und dann haben wir natürlich ein explosives Gemisch.

Einsamkeit: Man kann etwas dagegen tun

Kann man denn überhaupt etwas tun, wenn man einsam ist?
Also, es gibt ja einige Experten, die da sagen: „Nun bring dich mal ein, geh in den Wanderverein oder geht mal tanzen!". Damit ist es mit Sicherheit nicht getan, das wird das Problem nicht beseitigen.

Bewährt haben sich hingegen Methoden, die helfen, aus diesen negativen Konnotationen von Einsamkeit herauszukommen. Also das man sich vergegenwärtigt, dass Vereinsamung nicht das Ureigene ist, sondern, dass es auch ein Phänomen unserer Zeit ist und man Geduld haben muss, die Situation zu durchbrechen.

Gut beraten ist auch jeder, die Personen, die man noch hat, ins Boot zu holen und sich ihnen mitzuteilen. Also offen darüber zu reden, wo das Problem liegt. Und man wird dabei sehr schnell die Erfahrung machen, dass, wenn man sich zu einem Problem bekennt, sich auch andere deutlich schneller öffnen. Man wird dann merken, dass es eine Fehleinschätzung ist, dass man dieses Problem als Einzelner hat.

Was kann ich machen, wenn ich mitbekomme, dass jemand einsam ist?
Das hat in erster Linie damit zu tun, wie der persönliche Bezug zu der Person ist. Wir müssen ja davon ausgehen, dass Einsamkeit auch mit Scham behaftet ist. Da wäre man nicht gut beraten, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Aber man tut gut daran, einsame Menschen einzuladen, sie aufzufordern, bei etwas mitzumachen und mit ihnen über Dinge zu sprechen, die sie interessieren. Es geht darum, sich langsam anzunähern und eine Vertrauensebene zu schaffen.

Es sind die kleinen Gesten, die zählen: Also der Nachbar, der mitbekommt, dass der andere Nachbar einsam ist. Der kann das Problem ein bisschen durchbrechen, indem er sich anbietet, Hilfestellung zu leisten. Das sehen wir jetzt ganz konkret im Kontext dieser Corona-Krise.

Herr Hax-Schoppenhorst, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

Thomas Hax-Schoppenhorst

Thomas Hax-Schoppenhorst ist Lehrer und seit 1987 pädagogischer Mitarbeiter der LVR-Klinik Düren. Hier war er 16 Jahre in der forensischen Psychiatrie tätig und mittlerweile als Beauftragter für Öffentlichkeitsarbeit sowie Integrationsbeauftragter. Er ist Dozent an Pflegeschulen, gibt Seminare und hält Vorträge. Seit 2001 veröffentlicht er im Hogrefe Verlag.