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Persönlichkeitsdiagnostik mit der neuen Auflage des PSSI

Seit der Publikation der ersten Auflage im Jahre 1997 hat sich das PSSI als wichtiges Verfahren der Persönlichkeitsdiagnostik fest etabliert. Das Verfahren weist eine besondere theoretische Einbettung auf: Mit dem PSSI können Persönlichkeitsstile nicht nur zur deskriptiv erfasst, sondern darüber hinaus auch funktionsanalytisch beschrieben werden. Kürzlich ist die dritte Auflage erschienen. Sie enthält eine neue Normierung und es wird eine neue Kurzversion zur Verfügung gestellt. Der Autor Julius Kuhl beantwortet Fragen zum Persönlichkeitstest in unserem Interview.

PSSI Persönlichkeits-Stil- und Störungs-Inventar PSI Kopf mit bunten Bausteinen Bild ©shutterstock / Vitalii Vodolazskyi

Das PSSI dient dazu, Persönlichkeitsstile zu erfassen. Bei welchen Fragestellungen bietet sich ein Einsatz des PSSI besonders an? Gibt es typische Anlässe und Problemstellungen bzw. typische Einsatzbereiche?

Der Erfolg psychologischer Intervention, besonders in der Beratung, im Coaching und in der Therapie hängt sehr davon ab, wie gut es gelingt, sich in die innere Welt der ratsuchenden Person hineinzuversetzen. Wenn Menschen sich verstanden und akzeptiert fühlen, wird ihr ganzheitlich-intuitives Selbst aktiviert. Das ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass Interventionen (z.B. Ermutigung, Mitfühlen, Beruhigung) nicht nur kurzfristig wirksam werden, sondern ins Selbst integriert werden und damit selbstständig eingesetzt werden können (z.B. als Selbstmotivierung bzw. Selbstberuhigung).

Worin besteht die Besonderheit des PSSI gegenüber anderen Persönlichkeitstests?

Eine Besonderheit besteht darin, dass die Skalen des PSSI nicht in erster Linie auf der Zusammenfassung korrelierender Items beruhen, sondern auf phänotypischen Unterscheidungen, die in der Psychologie, Psychiatrie, aber auch in verschiedenen philosophischen Typologien tradiert sind. Die Inhalte der Skalen orientieren sich an den Diagnosekriterien für die Beschreibung von Persönlichkeitsstörungen des Diagnostischen Statistischen Manuals (DSM) der amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft und sollen auch korrespondierende nichtpathologische Persönlichkeitsstile abbilden. Ausgehend von diesem deskriptiven Ansatz bei der Feststellung des Erscheinungsbildes der Stile wird eine Interpretation der verschiedenen Stile durch eine funktionsanalytische Prozesstheorie der Persönlichkeit unterstützt, auf deren Grundlage Hypothesen für den direkten Dialog mit den Klient*innen abgeleitet werden können.

Die Skalen des PSSI wurden aus den Diagnosekriterien des DSM-IV bzw. der ICD-10 abgeleitet. Inwiefern ist das PSSI darüber hinaus mit dem Verständnis von Persönlichkeitsstörungen der ICD-11 kompatibel?

Das PSSI ist mit den Neuerungen der ICD-11 im Verständnis von Persönlichkeitsstörungen (PS) kompatibel, weil es bereits seit seiner Entwicklung in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts den in der ICD-11 definierten Kriterien gerecht geworden war: PS werden im PSSI als a) dimensional statt typologisch, b) trotz einer gewissen Stabilität veränderbar und c) durch Störungen kognitiver, emotionaler, motivationaler und volitionaler Prozesse charakterisiert. Die Konzeption des PSSI beruht demnach seit der ersten Auflage des Manuals auf einem funktionsanalytischen Verständnis der Persönlichkeit, nach welchem PS – wie ein Vierteljahrhundert später in der ICD-11 realisiert – auf Störungen innerpsychischer Prozesse der Entwicklung des Selbst, der Emotionsregulation, der Motivation (einschließlich beziehungsrelevanter Fähigkeiten) sowie der kognitiven Verarbeitung beruhen. Beibehalten hat das PSSI – im Gegensatz zur ICD-11 – die in der therapeutischen Praxis wertvollen und relevanten deskriptiven Differenzierungen, welche in früheren ICD-Versionen (wie auch den verschiedenen Versionen des DSM) enthalten waren. Die Integration der traditionellen deskriptiven Differenzierung verschiedener Persönlichkeitsstörungen mit einem funktionsanalytischen Ansatz kann vor diesem Hintergrund als Brücke zwischen der funktionsanalytischen Ebene innerpsychischer Prozesse und der traditionellen Differenzierung beobachtbarer (behavioraler) Kriterien für die Diagnose der verschiedenen Persönlichkeitsstörungen verstanden werden.

Das PSSI beruht auf der Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen (PSI-Theorie). Welche Vorteile ergeben sich daraus für die Persönlichkeitsdiagnostik?

Die PSI-Theorie ermöglicht eine funktionsanalytische Interpretation von stark ausgeprägten Stilen. Hier geht es vor allem um zwei zentrale Selbstkompetenzen: die Handlungsfähigkeit (realistische Vorsätze bilden und umsetzen) und das Selbstwachstum (aus Fehlern und leidvollen Erfahrungen lernen, statt sie dauerhaft zu verdrängen oder sich von ihnen lähmen zu lassen). Die PSI-Theorie schützt vor allem vor einer voreiligen Pathologisierung starker Ausprägungen einzelner Persönlichkeitsstile. Dieser Schutz beruht auf der Unterscheidung zwischen Erst- und Zweitreaktion: Selbst ein extrem ausgeprägter Stil (z.B. als ängstliche, misstrauische, oder narzisstische Erstreaktion) kann zum Motor für eine positive Selbstentwicklung werden, wenn die stilspezifische Erstreaktion bei Bedarf gegenreguliert werden kann. Selbstregulatorische Kompetenzen (ob bereits vorhanden oder durch die Intervention entwickelt) kann durch zusätzliche Tests oder im direkten Dialog mit dem Klienten beurteilt werden.

Welche Kenntnisse sollten Anwender*innen mitbringen, um das PSSI einzusetzen? Können auch Anwender*innen, die mit der PSI-Theorie nicht vertraut sind, den Fragebogen einsetzen?

Grundvoraussetzung ist professionelles Wissen über Persönlichkeitsunterschiede. Professionelles Wissen schützt davor, sich bei der Interpretation persönlichkeitspsychologischer Begriffe voreilig von eigenen Erfahrungen aus der Selbst- oder Fremdbeobachtung leiten zu lassen. 

Natürlich braucht man nicht mit der PSI-Theorie vertraut zu sein, um das PSSI sinnvoll einsetzen zu können: Die Testkonstruktion basiert zunächst nicht auf theoretischen, sondern auf deskriptiven Kriterien, die auf professionellen Verhaltensbeobachtungen beruhen – in der Fremd- oder in der Selbstbeurteilung. Dadurch ist der Test anschlussfähig für viele verschiedene Theorien bzw. Therapieschulen. Das gilt übrigens auch für die PSI-Theorie: Sie beschreibt Prozesse, die zentralen Selbstkompetenzen zugrunde liegen. Konkret geht es z.B. darum, welche Formen der Informationsverarbeitung (z.B. analytisch vs. intuitiv) und welche affektiven Erstreaktionen bei den verschiedenen Persönlichkeitsstilen vorherrschen. 

Veränderungen gegenüber der Vorauflage

Was sind die wesentlichen Änderungen der neu erschienen dritten Auflage des PSSI?

Einige Items wurden umformuliert: Sie waren nicht mehr zeitgemäß oder hatten aus anderen Gründen schwächere Güteeigenschaften. Vor allem ging es um eine Neu-Normierung des PSSI, aber auch um eine Erweiterung der Validität an neuen, größeren Stichproben. Die 3. Auflage des Manuals ist neu strukturiert und orientiert sich an den in der DIN-Norm 33430 des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen angegebenen Kriterien.

Die neue Auflage beinhaltet erstmals eine Kurzversion. Wann bietet sich der Einsatz dieser Kurzversion im Vergleich zum Standardfragebogen (Langversion) an?

Die Kurzform hat naturgemäß eine geringere Differenzierungsstärke und niedrigere Reliabilitätskennwerte. Sie ist deshalb nicht für Anwendungen gedacht, in denen es um individuelle Eignungsbeurteilung (z.B. Job-Person-Passung) oder individuelle Intervention geht. Anwendbar ist die Kurzversion vor allem in der Forschung, wenn besondere Kriterien zur Reliabilitätssicherung erfüllt sind (z.B. hinreichend große Stichproben). In der individuellen Beratung kann sie allenfalls als Selbsterfahrungsinstrument eingesetzt werden (z.B., wenn Antworten auf einzelne Fragen als Ausgangspunkt für die Selbstreflexion genutzt werden).


Herzlichen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Julius Kuhl

Professor Dr. Julius Kuhl hatte von1986 bis 2015 den Lehrstuhl für Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung an der Universität Osnabrück inne und war 2008-2016 Leiter der Forschungsstelle Begabungsförderung im Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Selbststeuerung und Affektregulation. Diese Forschung bildete die Grundlage für eine neue Persönlichkeitstheorie, die Fortschritte der Motivations-, Entwicklungs-, Kognitions- und Neuropsychologie integriert (PSI-Theorie: www.psi-theorie.com). Aufbauend auf dieser Arbeit wurde in den letzten Jahren eine neue Methodik zur Diagnostik persönlicher Kompetenzen entwickelt, die bei Kindern und Erwachsenen eine umfassende Analyse vorhandener und entwicklungsfähiger Potenziale ermittelt (EOS: Entwicklungsorientierte Systemdiagnostik: www.impart.de). Seit 2008 gehört er dem Kuratorium der Andrea Kuhl-Stiftung an, die Projekte zur Motivations- und Begabungsentwicklung von Kindern und Jugendlichen wissenschaftlich begleitet (www.AndreaKuhl-Stiftung.de). Prof. Kuhl erhielt 2012 den Preis für sein Lebenswerk der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, 2020 den Preis der Dr. Margrit Egnér-Stiftung.

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herausgegeben von Katja Beesdo-Baum, Michael Zaudig, Hans-Ulrich Wittchen