Für Kinder und Jugendliche mit Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung existiert ein diagnostischer Goldstandard, nicht jedoch für erwachsene Menschen. Insbesondere bei eingeschränkter oder fehlender Sprache ist die Diagnostik erschwert, da die Anwendung von Fragebögen zur Selbstauskunft und interviewbasierte Verfahren mit den betroffenen Menschen nicht möglich ist. Hier sind alternative Ansätze gefragt, die weitestgehend sprachunabhängig und dennoch altersgerecht sind.
Wir haben mit Dr. Thomas Bergmann gesprochen, der seit 15 Jahren als Musiktherapeut am Berliner Behandlungszentrum für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen arbeitet. Neben seiner Tätigkeit in dieser auf erwachsene Menschen mit Intelligenzminderung spezialisierten psychiatrischen Einrichtung ist er auch in der Autismusforschung aktiv. So hat er mit der Musikbasierten Skala zur Autismus-Diagnostik (MUSAD) ein musikbasiertes Verfahren zur diagnostischen Verhaltensbeobachtung entwickelt, welches die oben genannten Anforderungen berücksichtigt.
Musik als Form der sozialen Interaktion
Herr Dr. Bergmann, Musik in der Diagnostik, das ist ein eher unüblicher Ansatz. Welche Idee verbirgt sich dahinter?
Die Idee erklärt sich aus meinem Hintergrund als Musiktherapeut, wobei das aktive elementare Musizieren in meiner Arbeit eine zentrale Rolle spielt. Hier gestaltet sich auf nonverbaler Ebene eine Beziehung, die verschiedene Qualitäten aufweisen kann. Dies kann von Kontaktlosigkeit, das heißt dem alleinigen Spiel der therapieredenden Person ohne dass die Klientin beziehungsweise der Klient reagiert, über begleitendes Spiel bis hin zu einem lebendigen musikalischen Dialog mit abwechselndem Zuspiel – vergleichbar mit einem anregenden Gespräch – reichen. Bei den meisten meiner Klientinnen und Klienten handelt es sich um Menschen mit einer Autismus-Spektrum Störung. Und da gerade diese Personen qualitative Einschränkungen im Bereich der sozialen Interaktion und Kommunikation haben, ist Musiktherapie zur Förderung sozialer Fertigkeiten sehr geeignet. Umgekehrt lassen sich natürlich soziale Einschränkungen in einem musikalisch-interaktiven Rahmen gut beobachten, insbesondere bei Menschen, die nicht oder kaum verbal kommunizieren. Und dies ist der Ansatzpunkt der musikbasierten Diagnostik bei Autismus-Spektrum-Störungen.
Mit der MUSAD liegt nun erstmals ein Verfahren vor, das an diesem Ansatz anknüpft. Was sind Ihrer Ansicht nach die Besonderheiten der MUSAD?
Die MUSAD als strukturiertes, diagnostisches Beobachtungsinstrument ist im Konzept mit der ADOS, einem spiel- und interviewbasierten Verfahren zur Autismusdiagnostik, vergleichbar. Aber die nonverbale Qualität musikalischer Interaktion zu nutzen, um Menschen mit eingeschränkter Sprache angemessen zu untersuchen, das ist wirklich neu. Musikalische Interaktion braucht keine Worte und ist dennoch hoch kommunikativ. Die musikalischen Parameter Melodie, Rhythmus, Klang, Form und Dynamik findet man auch in der Sprache, das zeigt sich ganz deutlich im ‚Baby Talk‘ mit einem Säugling, der sehr interaktiv sein kann, ohne dass die Wortbedeutung eine Rolle spielt. Auch in der Kommunikation mit erwachsenen Menschen auf einer frühen Entwicklungsstufe spielen diese quasi-musikalischen Elemente eine Rolle.
Ein weiterer Punkt ist die Altersangemessenheit. Man spielt ja Musik – damit ist musikalischer Ausdruck und musikalische Interaktion eine altersunabhängige Spielform. Man kann mit einem 5-jährigen Kind, einem 15-jährigen Jugendlichen oder einem 50-jährigen Erwachsenen gemeinsam trommeln, ohne dass das irgendwie unpassend wäre. Da auch erwachsene Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung zur Arbeit in eine Werkstatt oder einen Förderbereich gehen, wählen und heiraten können und ein – ihrem Niveau angemessenes – erwachsenes Leben führen, bietet ein musikbasiertes Setting einen angemessenen Untersuchungsrahmen, um Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit zu beobachten.
Und dann ist da noch die häufige Vorliebe für Musik bei Menschen aus dem Autismus-Spektrum, was es – wie auch in der Therapie – erleichtert, überhaupt in Kontakt treten zu können und zu motivieren.