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Lesen mit Willy Wortbär

Das Trainingsprogramm „Lesen mit Willy Wortbär“ ist für die Förderung von Grundschulkindern der zweiten bis vierten Klasse mit schwachen Leseleistungen konzipiert, deren Leseprobleme durch ineffiziente Worterkennungsprozessen gekennzeichnet sind. Die Autor*innen Bettina Müller, Tobias Richter und Gabriele Otterbein-Gutsche beantworten Fragen zum Lesetraining in unserem Interview.

Mittlerweile gibt es ein großes Angebot an Fördermaterialien, um Kinder mit schwachen Leseleistungen zu unterstützen. Worin unterscheidet sich „Lesen mit Willy Wortbär“ von anderen Angeboten?

Wir haben „Lesen mit Willy Wortbär“ dafür entwickelt, Schülerinnen und Schüler zu fördern, die Schwierigkeiten haben, Wörter genau und flüssig lesen zu können – ein wesentlicher Meilenstein in der Leseentwicklung. Wenn Kinder Schwierigkeiten bei der Worterkennung haben, hat dies zumeist weitrechende Konsequenzen für das sinnentnehmende Lesen von Sätzen und ganzen Texten. Auch die Lesemotivation leidet natürlich, wenn Schülerinnen und Schüler mit jedem Buchstaben ringen müssen.
Die Grundidee des Trainings „Lesen mit Willy Wortbär“ stützt sich im Wesentlichen auf zwei Säulen: Zum einen greift es Übungen und Vorgehensweisen auf, die sich in der lerntherapeutischen Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit manifesten Lese- und zumeist auch Rechtschreibschwierigkeiten als wirksam erwiesen haben. Zum anderen wurden sämtliche Wörter, die im Training gelesen werden, systematisch aus den 500 häufigsten Schreibsilben des kindlichen Grundwortschatzes zusammengesetzt. Durch diese Kombination aus bewährten Trainingsmethoden und der systematischen Zusammenstellung des Trainingsmaterials basierend auf aktuellen Erkenntnissen der Leseforschung ist ein Training entstanden, das in Kleingruppen von vier bis sechs Kindern zur strukturierten Leseförderung in der Schule angewendet werden kann – bestenfalls schon bevor sich gravierende Leseprobleme manifestiert haben.

Das Förderprogramm „Lesen mit Willy Wortbär“ setzt gezielt auf der Ebene von Silben an. Welchen Vorteil bietet das silbenbasierte Training bei der Förderung schwacher Leseleistungen?

Ein typisches Merkmal leseschwacher Schülerinnen und Schüler im Deutschen ist ein stockender Lesefluss: Die Kinder lesen Wörter Buchstabe für Buchstabe und machen Pausen innerhalb von Wörtern, wenn sie versuchen, das Wort zu erkennen. Dieses buchstabenweise Einlesen ist kognitiv sehr aufwendig. Geübte Leserinnen und Leser hingegen erfassen Wörter nicht mehr buchstabenweise, sondern durch den Abgleich mit größeren Einheiten wie Silben und Morphemen, die mit zunehmender Leseerfahrung im mentalen Lexikon gespeichert werden. Soll heißen: Je häufiger ich eine Silbe, also eine bestimmte Abfolge von Buchstaben, lese, umso eher werden diese Buchstaben als zusammenhängende Folge im Langzeitgedächtnis abgespeichert. In kognitionspsychologischen Lesemodellen wird aktuell angenommen, dass beim Einlesen eines Wortes nicht nur die einzelnen Buchstaben im Langzeitgedächtnis aktiviert werden, sondern parallel auch die abgespeicherten Silben und Morpheme. Aus der aktuellen Forschung wissen wir, dass Schülerinnen und Schüler im Deutschen ab der zweiten Klasse Silben zur Worterkennung nutzen. Den leseschwächeren Kindern gelingt dieser Zwischenschritt vom Einzelbuchstaben hin zur Silbe häufig nicht – der besagte stockende Lesefluss ist die Folge.

„Lesen mit Willy Wortbär“ ist so konzipiert, dass leseschwache Schülerinnen und Schüler beim Aufbau mentaler Repräsentationen von Silben unterstützt werden. Sämtliche Trainingsmaterialien sind aus den häufigsten Schreibsilben zusammengesetzt. Die Idee ist simpel: Die häufigsten Silben sollen so oft wie möglich gelesen werden, um ihre Repräsentationen im Langzeitgedächtnis zu stärken. Weiterhin üben die Kinder, Wörter in ihre Silben zu zerlegen. So werden sie aktiv darin unterstützt, die Silben als Verarbeitungseinheit beim Einlesen zu nutzen und Wörter eben Silbe für Silbe statt Buchstabe für Buchstabe zu lesen.

Das Förderprogramm richtet sich an Grundschulkinder der zweiten bis vierten Klasse. Nimmt das Förderprogramm Bezug auf die jeweiligen Lehrplaninhalte? Inwiefern ist es an den jeweiligen Klassenstufen ausgerichtet?

Der Bezug zur Klassenstufe ergibt sich aus der systematischen Zusammenstellung der Trainingsmaterialien. Um zu wissen, was die häufigsten Silben sind, die von Kindern in einer bestimmten Klassenstufe gelesen werden, haben wir auf die Datenbank childLex (Schroeder, Würzner, Heister, Geyken & Kliegl, 2015) zurückgegriffen. Die Datenbank listet über 10 Millionen Wörter mit linguistischen Merkmalen auf, unter anderem auch die Häufigkeit der Wörter, mit der sie Leserinnen und Lesern verschiedenen Alters begegnen. Das Training ist damit zwar unabhängig von bundeslandspezifischen Lehrplänen, berücksichtigt in den Trainingsmaterialien aber gezielt den altersspezifischen Grundwortschatz: Version 1 des Trainings basiert auf dem Grundwortschatz der 6- bis 8-Jährigen (Version für die zweite Klasse), Version 2 des Trainings basiert auf dem Grundwortschatz der 9- bis 12-Jährigen (Version für dritte und vierte Klasse).

Welche Kinder können durch das Förderprogramm „Lesen mit Willy Wortbär“ besonders profitieren? Welche Voraussetzungen gibt es seitens der Kinder, um an dem Training teilnehmen zu können (z.B. hinsichtlich Deutsch als Muttersprache, motorischer Fähigkeiten oder einer Mindestlesefähigkeit)?

Das Lesetraining richtet sich an Kinder, die zwar alle Buchstaben kennen, aber diese nur mit Schwierigkeiten korrekt zu Wörtern zusammensetzen können. Die Kenntnis aller Buchstaben des deutschen Alphabets ist eine wichtige Voraussetzung für das Training. Ebenso wie mindestens durchschnittliche kognitive Grundfertigkeiten. In unseren Studien zur Überprüfung der Wirksamkeit des Trainings haben wir Kinder mit und ohne Deutsch als Muttersprache mit dem Lesetraining gefördert. Die Ergebnisse waren dabei unabhängig von der Muttersprache der Kinder. In den Studien zeigte sich wiederholt, dass die Kinder, die das Lesetraining zusätzlich zum regulären Unterricht erhielten, im Vergleich zu Kindern mit gleichen Leseleistungen, die das Training nicht erhielten, signifikante Verbesserungen in den sogenannten orthografischen Vergleichsprozessen zeigten. Es gelang ihnen also, Wörter besser und schneller durch den Abgleich mit größeren Einheiten wie Silben einzulesen, während die untrainierten Kinder der Kontrollgruppe stärker auf das buchstabenweise Einlesen von Wörtern zurückgriffen. Dieser Effekt war in den zweiten Klassen besonders stabil, d.h. der Effekt konnte in mehreren Studien nachgewiesen werden.
Das Training ist für die Arbeit mit Kleingruppen konzipiert, um auf die unterschiedlichen Leseniveaus der Kinder eingehen zu können. Sollte sich im Zuge der Förderung zeigen, dass Kinder mit dem Angebot nicht abgeholt werden können, so empfiehlt es sich, gemeinsam mit den Eltern und weiteren Lehrkräften des Kindes über eine (lerntherapeutische) Einzelförderung nachzudenken.

Welche Voraussetzungen gibt es an die fachliche Qualifikation der Trainingsleitung? Kann das Training nur durch Fachpersonal durchgeführt werden oder auch durch Laien?

Das Lesetraining kann von Lehrkräften angewendet werden. Auch Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten können das Training für die Einzelförderung nutzen, wenn sie die Rolle der Mitspielenden in den Gruppenübungen einnehmen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass das Training nur in der Anwendung mit Kleingruppen wissenschaftlich evaluiert wurde. Für die Anwendung mit einzelnen Schülerinnen und Schülern oder wenn Eltern die Trainingsleitung übernehmen, liegen keine Daten vor.
Das Training ist vollständig manualisiert, d.h. die Anwenderinnen und Anwender finden wörtliche Instruktionen für alle Übungen samt Angaben zur räumlichen und zeitlichen Umsetzung der Übungen. Alle benötigen Arbeitsblätter liegen dem Training auf einem USB-Stick bei und können entsprechend der Anzahl der teilnehmenden Kinder ausgedruckt werden.

Wie läuft eine typische Fördereinheit mit Willy Wortbär ab? Welche Methoden und Materialien kennzeichnen das Programm?

Alle Trainingsstunden folgen dem gleichen Ablauf: Auf einen gemeinsamen thematischen Einstieg in der gesamten Gruppe folgen Phasen der Einzelarbeit, Partnerübungen und des gemeinsamen silbenbasierten Spielens. Zur Einzelarbeit werden eine Fülle von Arbeitsblättern genutzt, die Partnerübungen und Spiele nutzen diverse Silben- und Wortkarten. Es war uns ein Anliegen, ein methodisch vielfältiges und motivational ansprechendes Training zu gestalten, sodass die häufigsten Silben im Kontext unterschiedlicher Übungen und Spiele immer wieder gelesen werden.

Wer verbirgt sich hinter „Willy Wortbär“ und welche Rolle spielt er im Training?

Willy Wortbär ist der Protagonist des Trainings, eine einem Waschbären nachempfundene Leitfigur, die die Kinder durch das Training begleitet und gemeinsam mit seinen tierischen Freundinnen und Freunden den Übungen und Regeln ein Gesicht gibt. Der Waschbär verweist auf die Geburtsstunde des Lesetrainings an unserer früheren Wirkungsstätte in Kassel – einer Stadt, die häufig als Waschbärenhauptstadt betitelt wird. Als Belohnung für gute Mitarbeit können die Kinder Sticker sämtlicher im Training vorkommender Tiere auf einem Sammelposter zusammentragen.

Kann das Training in der gegenwärtigen Pandemiesituation eingesetzt werden? Können Hygiene- und Abstandsregeln bei der Trainingsdurchführung eingehalten werden? Ist ggf. eine Trainingsdurchführung per Videokonferenz (z.B. Zoom) möglich?

Bei Partnerübungen und den gemeinsamen Spielen verlangt es eine gewisse Anpassung, aber grundsätzlich kann das Training auch unter Einhaltung der Abstandsregeln umgesetzt werden, wenn ein hinreichend großer Raum zur Verfügung steht.
Soll das Training per Videokonferenz angewendet werden, müssen den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern die Materialien vorab zur Verfügung gestellt werden. Kontrollphasen, die unter Anleitung der Lehrkraft unbedingt umzusetzen sind, müssten z.B. über einen geteilten Bildschirm in einem Textbearbeitungsprogramm realisiert werden, damit alle Schülerinnen und Schüler partizipieren können. Kurzum: Wir haben es bislang nicht erprobt, sehen jedoch das Potenzial der Anwendung unter Pandemiebedingungen, wenn die Trainerinnen und Trainer vorab einige Anpassungen am Material vornehmen.

Welche Voraussetzungen gibt es an die Räumlichkeiten und deren Ausstattung, um das Training durchführen zu können?

Das Lesetraining sollte in einem Raum mit Tafel oder Flipchart durchgeführt werden. Alle Kinder sollten an einem Tisch sitzen (Einzeltische oder ein großer Gruppentisch) und radierbare Stifte in unterschiedlichen Farben griffbereit haben. Die Sitzordnung der Kinder ist so zu gestalten, dass alle Kinder die Tafel im Blick haben und zudem Bewegungsfreiheit besteht, sodass die Übungen im Stehen problemlos durchgeführt werden können.

Wie aufwendig ist die Vorbereitung der einzelnen Fördereinheiten für die Trainingsleitung? Wie viel Zeit wird für die Zusammenstellung der Materialien benötigt?

Vor jeder Trainingssitzung müssen die benötigten Materialien ausgedruckt und teilweise zugeschnitten werden. Zudem sollte sich die Lehrkraft vorab mit den Instruktionen vertraut machen. Bei erstmaliger Anwendung des Trainings wird die Vorbereitung wohl zeitintensiver ausfallen als bei wiederholter Anwendung. So sollte wohl die Dauer einer Trainingssitzung von 45 Minuten auch für die Vorbereitung der Sitzung geplant werden. Dafür können einige Materialien, etwa die Silbenkarten der diversen Kartenspiele, wiederholt genutzt werden.

Das Training richtet sich an Kinder, für die das Lesen mühsam ist. Wie gelingt es mit dem Training, dass die Kinder trotzdem motiviert bleiben?

Zur Aufrechterhaltung der Motivation werden die Kinder für gute Mitarbeit mit Stempeln belohnt, die sie gegen Bilder der Protagonisten des Trainings für ein Sammelplakat eintauschen können. Auch diese Bilder stehen zum Ausdruck auf dem USB-Stick zur Verfügung.
Die spielerische Gestaltung des Trainings und das sehr kleinschrittige Arbeiten, gerade in den ersten Trainingsstunden, haben das Potenzial, leseschwache Kinder abzuholen und ihnen Erfolgserlebnisse mit der für sie eher aversiven Tätigkeit des Lesens zu verschaffen. Durch die Arbeit in der Kleingruppe sollte es der Lehrkraft möglich sein, die Schülerinnen und Schüler gezielter auf ihrem jeweiligen Leistungslevel abzuholen und unter Anwendung der Silbenregeln zu unterstützen, als es im großen Klassenkontext häufig der Fall ist.

Und zum Schluss eine persönliche Frage: Gibt es bereits Pläne, weitere Förderprogramme zu entwickeln? Werden Sie beruflich dem Thema Förderprogramme treu bleiben?

Erfreulicherweise konnten wir weitere Forschungsgelder einwerben, um ein digitales Lesetraining zu entwickeln, das auf dem Silbenansatz beruht. Aktuell läuft am Lehrstuhl für Psychologie IV (Pädagogische Psychologie) in Zusammenarbeit mit der Medieninformatik der Uni Würzburg ein Projekt zur Erstellung und Evaluation einer silbenbasierten Lese-App, die individuell sowohl in der Schule als auch zu Hause angewendet werden kann und den Leseleistungen der Schülerinnen und Schüler durch eine adaptive Gestaltung noch stärker Rechnung tragen kann.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

 

Literatur

Schroeder, S., Würzner, K.-M., Heister, J., Geyken, A. & Kliegl, R. (2015). childLex: A lexical database of German read by children. Behavior Research Methods, 47, 1085-1094. doi: 10.3758/s13428-014-0528-1

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