Frau Shirali Dikloo, der Ukrainekrieg löst Ängste aus, bei jeder und jedem von uns. Wie spiegelt sich dies in Ihrer Praxis zurzeit wider?
In vielen Regionen der Erde finden derzeit Krieg und bewaffnete Konflikte statt, so auch unter anderem in Mali, Afghanistan oder Somalia. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat Menschen auf der ganzen Welt bestürzt und stellt eine besondere Bedrohung für Europa und Deutschland dar. Aufgrund der hohen geographischen Nähe der Ukraine löst das aktuelle Geschehen daher bei vielen von uns Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht aus. Der Mechanismus der Angstbewältigung “Das hat hier in Deutschland nichts mit mir zu tun” - ist in diesem Fall nicht mehr wirksam.
In der Psychotherapeutischen Regelpraxis betrifft dies insbesondere Klient*innen, welche selbst Krieg, Flucht und Gewalt erlebt haben, wie zum Beispiel den zweiten Weltkrieg, den Bosnienkrieg der auch kürzlich aus Krisengebieten geflüchtete Klient*innen, wie Personen aus Afghanistan oder Syrien. Bei ihnen wirken die aktuellen schrecklichen Nachrichten häufig als Auslösereize für traumatische Erinnerungen, welche nun bruchstückhaft in Form von Bildern, damit verbundenen starken Gefühlen und massiven körperlichen Stressreaktionen auftreten.
Ängste zeigen sich aber auch bei Klient*innen, welche nie selbst Krieg erlebt haben. So auch bei jungen Personen, welche nach der Wende in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Im Minutentakt gibt es neue Informationen, die hilflos und ängstlich machen. In den Nachrichten sehen wir Bilder von zerstörten Geburtsstationen, Kindern im Luftschutzbunker, rollenden Panzern oder nun auch von auf der Straße getöteten Zivilisten oder Massengräbern. Dies alles findet in relativ naher Entfernung von uns statt, was Angst auslöst.
Angst ist zunächst einmal eine wichtige Emotion und per se nicht gefährlich. Sie wird aktiviert, wenn abstrakte Werte, wie Sicherheit und Frieden bedroht sind und führt zu dem Eindruck von Kontrollverlust, Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit. Interessanterweise zeichnet bis dato bei meinen Patient*innen mit Angststörungen keine Verschlechterung ihrer Symptomatik ab, erhalten diese Ängste häufig eingeschränkten Realitätsbezug. Patient*innen mit Depressionen, bei welchen eine pessimistische Sicht auf die Welt und Fatalismus besonders ausgeprägt ist, erleben gerade eine „Bestätigung“ ihrer Befürchtungen im Sinne erlernter Hilflosigkeit. Bei ihnen ist häufig eine Zuspitzung ihrer Symptomatik zu erleben.