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Eine Kindheit mit ADHS

Schon früh merkt Daniela Chirici, dass ihr Sohn Kilian anders ist als andere Kinder. Als die Diagnose ADHS gestellt wird, ist zumindest klar, warum Kilian solche Probleme in der Schule und im Sozialverhalten hat. Sie beginnt, für die ADHS-Organisation Schweiz Beiträge zu schreiben, die sie jetzt im Buch „Eine Kindheit mit ADHS“ zusammengefasst und mit anderen Texten ergänzt hat. Wir haben mit Daniela Chirici über ihr Buch und ihre Erfahrungen gesprochen, über Herausforderungen, Kraftquellen und die Möglichkeit, anderen Betroffenen zu helfen.

Frau Chirici, hätten Sie sich selbst ein Buch gewünscht, wie das, was Sie jetzt geschrieben haben?

So ein Buch hätte mir persönlich sehr geholfen, vor allem auf der emotionalen Ebene, z.B., wenn die Angriffe von außen kommen, wie geht man damit um?  Es hieß, Kilian sei unerzogen, ich hätte ihn nicht im Griff usw. Ich hätte mir ein Buch gewünscht, das aus dem Leben gegriffen ist. Die Ratgeber, die Tipps, die sind alle wunderbar, auch lesenswert und empfehlenswert, aber mir hat der familiäre Aspekt gefehlt. Wie geht man in der Partnerschaft damit um, wie geht man mit so einem Kind um? Was heißt das für die Familie? Darum denke ich, das Buch, das ich geschrieben habe, ist genau so eins, das ich selbst nirgends gefunden habe.

Wann wurde klar, dass Kilian anders ist als andere Kinder? Und wie lange hat es dann bis zur Diagnose ADHS gedauert?

Ich habe es schnell gemerkt nach der Geburt. Meine Freundin hatte zeitgleich auch ihr erstes Kind bekommen, da hatte man direkt einen Vergleich. Mein Sohn hat durchgeschrien die ganze Nacht, von 18 Uhr bis 8 Uhr morgens. Dann habe ich gemerkt, dass er schon als Baby an Strukturen gebunden war, nur wenn ich immer die gleichen Zeiten einhielt, dann hatte ich die Chance, dass er einschlief. Er war auffällig im Spracherwerb – er war schon später dran als die anderen Kinder – und im Sozialverhalten. Mit 11 Monaten ist er gelaufen und ab da war ich beschäftigt mit Hinterherlaufen, da fiel es extrem auf, dass er gar nicht zur Ruhe gekommen ist. Auch das Essen war ein Thema, es hat ewig gedauert, bis er mal einen Löffel gegessen hat. Er war von Anfang an, vom ersten Atemzug, für mich auffällig, ich habe gemerkt, der ist irgendwie anders. Ich bin dann früh zum Kinderarzt gegangen, die haben gesagt, ich soll keine hysterische Mutter sein, es käme schon alles. Es blieb aber schwierig, er hat andere Kinder gebissen, ist im Sandkasten über die Bauten der anderen drüber, wir haben uns sehr unbeliebt gemacht auf dem Spielplatz. Dann bin ich wieder zum Kinderarzt, ich habe gesagt, er bleibt nie bei einer Sache, er konzentriert sich gar nicht! Aber auch da – er war 5 – hieß es, ich soll nicht immer so hysterisch tun, es sei schon alles in Ordnung.

"Es hieß, ich soll nicht immer so hysterisch tun, es sei schon alles in Ordnung."

Dann kam der Eintritt in den Kindergarten und nach kaum 6 Wochen hat man schon zu uns gesagt, wir sollen zum Gespräch kommen. Da habe ich gewusst, die kommen jetzt mit diesem „aber“ – und so war es dann auch. Er war 6 Jahre und 4 Monate, als man die Diagnose gestellt hat. Und bis dahin hat man immer gedacht, es liegt an mir, ich sollte es ja ruhig und gelassen nehmen.

Hätte es etwas geändert, wenn die Diagnose früher da gewesen wäre?

Ja, das hätte etwas geändert, dann hätte ich auch mehr Unterstützung gehabt, Kilian hätte Anrecht gehabt auf eine Frühförderung, man hätte die Schulsituation ganz anders angehen können. Kilian hat mit 4 Jahren immer noch nicht durchgeschlafen, das war in der Spielgruppe kaum tragbar. Hätte ich es vorher gewusst, man hätte ganz anders mit dem Thema umgehen können.

Dann hat Ihnen die Diagnose in gewisser Weise geholfen?

Ja, das war dann so ein Aha-Erlebnis: Ach darum macht er diese Sachen, deswegen ist es so, dann könnte ich ihm noch so helfen. Man hat sich dann auch nicht immer die Schuld an allem gegeben. Ich war ja strukturiert und klar, ich habe nicht verstanden, was ich falsch mache. Ich stand abends oft vor seinem Bett, wenn er mal geschlafen hat und hab mir meinen Sohn angeschaut und überlegt: irgendwas stimmt nicht, ich weiß nicht, was es ist, aber ich weiß, du bist ein guter Kerl. Mutterliebe habe ich gespürt zu diesem Kind, das habe ich nie in Frage gestellt.

Kilian und Sie sind relativ früh an die Öffentlichkeit gegangen, d.h., sie beide haben in Dokumentarfilmen mitgewirkt, Sie selbst haben Beiträge für die ADHS-Organisation in der Schweiz geschrieben – wie kam es dazu?

Ich war in einer Elterngesprächsgruppe, wo sich betroffene Eltern austauschen konnten, dort wurden Leute für den Vorstand gesucht und ich bin dann eingetreten. In dieser Zeit hat das Schweizer Fernsehen angefragt, ob es Familien mit ADHS-Kindern gäbe, die bereit wären für eine Dokumentation. Jemand aus dem Präsidium der elpos sprach mich an, weil sie meinte, wir wären genau die Richtigen. Da habe ich zuerst gesagt, Nein, das mache ich sicher nicht, ich stelle doch nicht mein Kind zur Schau. Dann habe ich ein paar Nächte darüber geschlafen und habe gedacht: Warum eigentlich nicht? Es ist ja ein Thema, bei dem es jedes Mal eine Medikamentendiskussion gibt, eine Erziehungsdiskussion – warum kann man nicht mal aufzeigen, was es für das Kind heißt und für die Familie. Nach diesem ersten Film war die Nachfrage noch groß, so dass man einen zweiten gedreht hat. Am Schluss war dann klar, die Leute wollten immer noch wissen, wie es mit Kilian weiterging, denn der zweite Film hat aufgehört, als Kilian gerade in einem Dilemma feststeckte. So kam es dann zum dritten Film, der Reportage „Kilian – Eine Kindheit mit ADHS“.

Für Kilian war es in Ordnung?

Ja, der war damals 9 ½ ungefähr, ich habe ihm gesagt, wir hätten die Möglichkeit, ins Fernsehen zu gehen und sein Satz war: Mama, lass uns das doch machen, ich kann doch zeigen, wie das ist, dass man das auch endlich versteht, wie es mir geht. Da habe ich gedacht, dann ist es auch richtig. Für ihn hat das gestimmt, und es stimmt auch heute noch. Der ist auch stolz auf das Buch, er hat gesagt, er will das dann bei den Bestsellern sehen! Stellen wir mal hohe Ziele statt kleine Ziele!

"Mama, lass uns das doch machen, ich kann doch zeigen, wie das ist, dass man das auch endlich versteht, wie es mir geht."

Das Leben mit einem von ADHS betroffenen Kind ist sehr herausfordernd, hat Ihnen das Schreiben geholfen? Was hat Ihnen noch Kraft gegeben?

Das Schreiben kam zustande, weil die Redakteurin aus unserem Verein, nachdem wir im Fernsehen waren, meinte, da sollte man etwas dazu schreiben. Erst waren 1,2 Artikel geplant, daraus sind jetzt 10 Jahre geworden. Es waren schwierige Situationen, die wir hatten und ich denke manchmal, ja, das war wie eine Selbsttherapie, es niederzuschreiben. Meine Beiträge sollten aber auch hilfreich sein, damit andere davon profitieren können.

Ich war sehr oft angespannt, in der schwierigsten Phase habe ich gedacht: Ich manage hier alles, was kann ich machen, dass ich mal entspannen kann, dass ich mal den Kopf frei bekomme und Kraft tanken kann. Ich hatte einen Kindheitstraum: Panflöte spielen. Ich habe mir eine Lehrerin gesucht und habe angefangen – ohne musikalische Vorkenntnisse! Und seither spiele ich Panflöte im Ensemble. Das war die Entspannung, bei der ich wusste, das lässt mich die Gedanken unterbrechen. Und das ist heute noch so. Dann habe ich das Segeln kennen gelernt und habe gemerkt, die Freiheit auf dem See, die hilft mir, wieder Kraft zu schöpfen. Hilfreich sind auch Treffen mit Freundinnen, der Austausch, die „Frauengespräche“, oder mal zusammen wellnessen gehen. Es braucht Mut zu sagen: jetzt nehme ich mir die Auszeit, weil ich sie brauche. Ich wusste, ich muss durchhalten bei Kilian, sonst schafft er das nicht.

Sie arbeiten selbst inzwischen als Erziehungsberaterin und Elterncoach, wie sehr helfen hier Ihre eigenen Erfahrungen?

Die Erfahrung macht es für mich einfacher, einmal durch die medizinischen Background als Krankenschwester und dann aus der Perspektive als Mutter, ich kann mich in die Eltern gut einfühlen, wie es ihnen geht und ich weiß auch, wie der Alltag aussieht, das kann ich eins zu eins nachempfinden. Durch die Ausbildung als Entwicklungs- und Lerntherapeutin weiß ich, wie ich die Kinder fördern kann, in ihrer Entwicklung und individuell, denn jedes AHDS-Kind ist ja individuell. Da freut es mich natürlich, dass ich Kindern und Eltern eine Unterstützung anbieten kann. Ich möchte auch die Eltern mehr ins Boot holen, gerade auch Eltern, die selbst von ADHS betroffen sind, meistens brauchen die sogar mehr Unterstützung als die Kinder. Ich merke, wie sich die Eltern wohlfühlen, es braucht nicht viele Worte, sie müssen es mir nicht groß erklären, weil ich weiß, wovon sie reden. Das ist natürlich ein Vorteil.

Was möchten Sie Leser*innen Ihres Buches vermitteln, was wären Ihre wichtigsten Anliegen?

Ich will, dass das Buch Mut und Hoffnung gibt! Es gibt diese dunkle Seite, wo man denkt, es geht nie vorwärts, alles läuft nur noch schief. Aber ich will zeigen, dass es gut werden kann. Dass es zwar Energie braucht, dass es herausfordernd ist, dass man auch oft an seine Grenzen kommt – aber die Kernbotschaft meines Buches ist immer: Dranbleiben lohnt sich.

"Die Kernbotschaft meines Buches ist immer: Dranbleiben lohnt sich!“

Es geht nicht immer in die gewünschte Richtung, aber wenn man dranbleibt, und das macht, was man machen kann, dann haben die Kinder eine Chance, das soll das Buch zeigen. Kilian hatte den schwierigsten Schulweg gehabt, den ich in unserer Gruppe gehört habe, und dennoch ist er auf einem guten Weg, Er hat große Widrigkeiten erlebt und trotzdem steht er jeden Morgen um 5 Uhr morgens auf und sagt: ich gehe gerne arbeiten und komme abends wieder heim und bin dann müde.


Herzlichen Dank für das Gespräch!

Portrait von Daniela Chirici.

Daniela Chirici

Daniela Chirici hat vor der Geburt ihrer Kinder als Krankenschwester gearbeitet. Sie ist Mutter von zwei Söhnen, ihr ältester Sohn Kilian ist von ADHS betroffen. Sie war drei Jahre im Vorstand von Elpos Zentralschweiz engagiert und hat zusätzlich zwei Jahre als Co-Leitung die AD(H)S Elterngesprächsgruppe von Elpos Zentralschweiz geführt. Im Dezember 2010 haben Kilian und sie im Regiotalk von Tele 1 mit dem Thema „Diagnose AD(H)S“ mitgewirkt. im November 2011 im DOK-Film vom Fernsehen SRF „Hyperaktive Kinder, Modeerscheinung oder Warnsignal?“, im Oktober 2017 in „Leben mit ADHS“. Seit August 2015 ist Daniela Chirici als Schulassistentin in einer Primarschule im Kanton Zürich tätig, im April 2018 hat sie die Ausbildung zur Dipl. Erziehungsberaterin/Elterncoaching erfolgreich abgeschlossen. Von 2018 bis 2021 arbeitete sie in eigener Praxis für Elternberatung in Zug. Seit 2021 arbeitet sie im Zentrum für Psychologie und Verhaltenstherapie Abegglen, Isler & Partner in Baar, als ADHS-Coach für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und in der Elternberatung.

Das sagt der Dorsch zu:

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) [engl. attention deficit hyperactivity disorder (ADHD)], [KLI], zählt zu den externalisierenden Verhaltensstörungen. Die Symptomatik wird von der Symptomtrias der Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität geprägt. Symptome der Unaufmerksamkeit werden im Alltag bspw. durch Unachtsamkeit bei der Bearbeitung von (Schul-)Aufgaben, einer starken Ablenkbarkeit, Schwierigkeiten in der (längerfristigen) Fokussierung auf eine konkrete Tätigkeit oder ein Spiel sowie Unorganisiertheit oder Vergesslichkeit bei der Erledigung von Alltagstätigkeiten deutlich. Symptome der Hyperaktivität finden in ausgeprägten Schwierigkeiten ruhig zu sitzen (insbes. in Situationen, in denen dies verlangt ist), einem exzessiven Bewegungsdrang, welcher im Jugend- und/oder Erwachsenenalter einer inneren Unruhe oder Anspannung weichen kann, sowie einem starken Redefluss und einer mangelnden Fähigkeit, sich ruhig mit einer Freizeitaktivität zu beschäftigen, ihren Ausdruck. ...

 

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