In Deutschland haben laut einer Erhebung des Schreibmotorik-Instituts sehr viele Schulkinder grafomotorische Probleme. Rund 23% der befragten Eltern gaben an, ihren Kindern falle es schwer, längere Zeit locker und leserlich zu schreiben. Für Österreich und die Schweiz wird die Situation ähnlich eingeschätzt.
Arbeitsgedächtnis
Lesen und Schreiben sind grundlegende Fähigkeiten für die Teilhabe an Bildung, Gesellschaft und Kultur sowie für Erfolg in der Schule und am Arbeitsplatz. Eine automatisierte Hand- oder Tastaturschrift ermöglicht es, Gedanken und Wissen schriftlich auszudrücken.
Trotz technischer Möglichkeiten werden in den Grund- und Sekundarschulen sehr viele Arbeiten und Prüfungen von Hand geschrieben. Dabei hat der "Präsentations-Effekt" (Lesbarkeit und orthografische Richtigkeit des Geschriebenen) nachweislich eine Auswirkung auf die Benotung eines Textes und das Tempo der Handschrift beeinflusst die Textmenge und die inhaltliche Qualität.
Das Arbeitsgedächtnis nimmt beim Schreiben eine zentrale Rolle ein und wird aufgrund seiner limitierten Kapazität für den komplexen Schreibvorgang oftmals als “Flaschenhals” bezeichnet. Solange das Schreiben von Hand nicht automatisiert ist, kann nur sequentiell geschrieben werden, das heisst die Aufmerksamkeit ist entweder auf Subprozesse wie die Grafomotorik oder auf den Inhalt des Textes gelenkt. Schreibende mit einer automatisierten Handschrift haben entsprechend eine grössere kognitive Kapazität für die inhaltliche und grammatikalische Gestaltung von Texten. Das Modell von Berninger & Winn (2008) wurde auf der Basis mehrerer Studien mit Primarschulkindern entwickelt und geniesst in der Forschung breite Akzeptanz (vgl. Abbildung 1). Es veranschaulicht das Zusammenspiel parallel ablaufender Prozesse, welche die Entwicklung des kindlichen Schreibens stark beeinflussen.
Abbildung 1:
"The not-so-simple view of internal functional writing system", nach Berninger & Winn 2008
Schreibanfängerinnen und -anfänger müssen der Herausforderung gerecht werden, einerseits auf der sprachlichen Ebene Texte verfassen zu lernen und andererseits gleichzeitig die Subprozesse Transkription und exekutive Funktionen zu entwickeln.
Auswirkungen grafomotorischer Schwierigkeiten im Schulalltag
Die meisten Kinder bauen grafomotorische Fähigkeiten in der Vorschulzeit auf und lernen die Handschrift im Rahmen eines guten Handschriftunterrichts, während bei 5 - 27% Schwierigkeiten auftreten (abhängig von der Klasse, den Selektionskriterien und dem Messinstrument). Probleme mit der Handschrift müssen früh angegangen werden, um weiterreichenden, sekundären Schwierigkeiten vorzubeugen. Es ist wichtig zu bedenken, dass ungefähr 30 - 60% der Unterrichtszeit in ersten Klassen dem Erlernen der Handschrift gewidmet ist. Grafomotorische Schwierigkeiten haben, insbesondere wenn sie durch die Bezugspersonen nicht erkannt werden, oft eine negative Auswirkung auf die Motivation, das Selbstvertrauen und die akademische Laufbahn. Betroffene Kinder laufen Gefahr, ein negatives Fähigkeitskonzept zu entwickeln und das Schreiben möglichst zu vermeiden, was zu einer Vergrösserung des Rückstandes auf andere Kinder führt. Grafomotorische Schwierigkeiten können unabhängig von Intelligenz und allgemeinen sprachlichen Fähigkeiten auftreten.
Der grösste Nachteil, der durch grafomotorische Schwierigkeiten entsteht ist eine schlecht automatisierte Handschrift. Grafomotorische Schwierigkeiten können bis in die Mittelschulen nachgewiesen werden, wobei Jungen häufiger betroffen sind als Mädchen.
Der Begriff Grafomotorik
Grafomotorik beinhaltet eine mit individuellem Ausdruck versehene, psychisch regulierte und sozial kommunikative Handlung. Auf dieser Basis wird die Schreibfähigkeit durch die Differenzierung grob- und feinmotorischer sowie sensorischer Fähigkeiten entwickelt. „In diesem Sinn stellt Grafomotorik eine hochkomplexe psychomotorische Anforderung dar und ist für das Kind eine mehrdimensionale Entwicklungsaufgabe, die das Ineinandergreifen von bereits erworbenen und neuen Fähigkeiten und Fertigkeiten verlangt. Grafomotorik ist Voraussetzung für den Schriftspracherwerb und somit Voraussetzung für die Teilhabe an Bildung, Gesellschaft und Kultur“ (Vetter et al., 2010).
Diagnostik der Grafomotorik in Kindergarten und Unterstufe
Im Schreibunterricht der Unterstufe liegt der Fokus erfahrungsgemäss häufig auf den sprachlichen Aspekten (Lesen und Texte verfassen) und viel weniger auf den grafomotorischen Grundlagen. Grafomotorische Grundlagen werden oft als selbstverständlich vorausgesetzt, was der Heterogenität kindlicher Entwicklung nicht gerecht wird. Entsprechend werden grafomotorische Schwierigkeiten häufig nicht erkannt, was für betroffene Kinder in Bezug auf Selbstkonzept und Schulmotivation einschneidende Auswirkungen haben kann.
Durch die Anwendung spezieller diagnostischer Instrumente wie dem GRAFOS (Sägesser & Eckhart, 2016) wird der Fokus auf die grafomotorischen Prozesse gerichtet und die interdisziplinäre Zusammenarbeit in Bezug auf die grafomotorische Erfassung und Förderung von Kindern in Kindergarten und Schule unterstützt.
Durch die frühe Erfassung und Förderung von Kindern mit grafomotorischen Schwierigkeiten soll Sekundärsymptomen, wie beispielsweise einem erschwerten Zugang zur Schriftsprache oder emotionalen und motivationalen Schwierigkeiten, bewusst entgegengewirkt werden. AF
Quellen
Berninger, V. W. & Winn, W. D. (2008). Implications and Advancements in Brain Research and Technology for Writing Development, Writing Instruction and Educational Evolution. In S. Graham & J. Fitzgerald (Hrsg.): Handbook of Writing Research (S. 96 – 114). New York / London: Guilford Press.